Colins Tagebuch – 2 – Die Beerdigung

2 – Die Beerdigung

Samstag, 02. Mai 2015

Die Kirche und der Friedhof lagen etwas außerhalb der Stadt und wir schwitzten in unseren Anzügen, trotz der eher kühlen Temperaturen. Colin hatte einen Ast vom Wegrand aufgehoben und benutzte ihn als Wanderstab. Seine Mutter schüttelte missfällig den Kopf, sagte aber nichts dazu. Erst vor der Kirche forderte sie ihn auf, das Ding wegzuwerfen.

»Ja, Mutter«, meinte er folgsam und blinzelte mir zu. »Ist wohl besser, wenn ich ihre Nerven heute nicht zu sehr strapaziere. Sie hat die alte Messerschmidt ziemlich gemocht.«

»Da dürfte sie die Einzige gewesen sein«, erwiderte ich achselzuckend. »Meine Mutter hat immer gesagt, die Frau würde für ihre Verschwendungssucht mal in der Hölle schmoren.«

»Das hat meine Mutter auch gesagt, aber weil die Alte uns Geld für einen neuen Rasenmäher geschenkt hat – geschenkt, wohlgemerkt! – hat sie ihr ihren Reichtum verziehen. Im Grunde waren doch alle sowieso nur neidisch.«

Das war so typisch für Colin. Er konnte kluge Dinge denken und manchmal sogar sagen, aber ich wusste immer, dass ich der einzige war, der ihn dabei hören durfte. Vor seinen Eltern, Lehrern und Verwandten stellte er sich gern dumm.

Die Menschenmasse drängte jetzt durch das schmiedeeiserne Friedhofstor, allen voran Pfarrer Dorsch. Seine eisengrauen Haare klebten ihm am Kopf und sein makelloser Talar flatterte, so schnell schritt er vorwärts. Ich konnte sehen, dass er eine Bibel umklammert hielt.

»Da ist der trauernde Verbliebene, der all das Vermögen erbt«, sagte Colin bissig und deutete auf einen vorgebeugten Glatzkopf, der einen schwarzen Anzug und einen weißen Gehstock trug.

»Rede nicht schlecht über Herrn Messerschmidt«, sagte plötzlich Colins Vater von hinter uns. »Wenigstens nicht wenn er zuhört.« Er versetzte seinem Sohn einen spielerischen Klaps auf den Hinterkopf, der jedem anderen Jungen wehgetan hätte.

»Wie lange müssen wir hierbleiben, Vater?«, fragte Colin.

»Es gibt kein Mittag zu Hause. Wenn du was essen willst, musst du nach der Zeremonie mit ins Gemeindehaus kommen. Deine Eltern werden doch auch da sein, oder Noah?«

Ich nickte vorsichtshalber mit dem Kopf, obwohl ich keine Ahnung hatte. Colins Vater war zufrieden und drängelte sich an uns vorbei, um zu seiner Frau zu eilen, die eben Herrn Messerschmidt zu stützen versuchte, obwohl der alte Mann ihre Hilfe sichtlich nicht in Anspruch nehmen wollte.

»Meine Güte, was die alle für einen Aufriss veranstalten.« Colin schüttelte den Kopf. »Und da drüben ist ja auch dieser Idiot Plattnase.«

Plattnase stand zwischen seinen Eltern und sah in seinem Anzug verdammt gut aus. Er hatte blonde Haare (und blaue Augen) und war schon sechszehn. Ich streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge raus und bedeutete Colin, in eine andere Richtung zu gehen. »Sonst sieht der uns noch«, sagte ich und Colin lächelte schief.

***

In der Kirche war ein billiger Sarg aufgebahrt (ich wusste, dass er billig war, denn meine Eltern hatten sich darum gekümmert), um den herum jemand Rosenblätter verstreut hatte. Es sah furchtbar kitschig und dumm aus und ich bewunderte Pfarrer Dorsch, weil er es schaffte, noch kitschiger und dümmer auszusehen – er trug eine zutiefst traurige Miene zur Schau und bemühte sich nach Kräften, etwas aus dem langweiligen Leben der alten Dame zu erzählen.

Colin und ich saßen in der letzten Reihe und beobachteten von dort aus die Trauergäste. Die meisten waren in schwarz erschienen (einige wenige trugen blau) und man schien sich darüber einig zu sein, dass es keinen Grund zum Weinen gab. Nur der verbliebene Messerschmidt tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen, als Pfarrer Dorsch in seiner schönsten Ein-wertvoller-Mensch-ist-zu-Gott-gegangen-Stimme das Schlussgebet anstimmte.

»Wenn sie schon könnte, würde sie sich im Grab umdrehen«, flüsterte Colin mir zu. »So eine verlogene Gesellschaft.«

Ich stimmte ihm wortlos zu. Wir verzichteten darauf, einen letzten Blick in den Sarg zu werfen und gingen direkt nach draußen. Das Tor zum Friedhof stand weit offen. Am Himmel zogen Wolken auf und ich fürchtete, wir würden zu allem Überfluss auch noch nass werden.

»Schau mal.« Colin stieß mir den Arm zwischen die Rippen. »Von hier aus kann man den Umzugswagen sehen.«

»Wer zieht denn schon freiwillig in ein Kaff wie dieses«, murrte ich. »Noch dazu an einem Tag, an dem die halbe Stadt loszieht und sich bei einem reichen Mann einschmeichelt, dessen geizige Frau endlich krepiert ist.«

»Tja, wer weiß«, meinte Colin nur. »Vielleicht haben sie Kinder.«

Das schien ihm wichtig zu sein und ich konnte es ihm nicht verübeln. Wir hatten nur uns, denn der Rest der Stadtjugend bestand aus Idioten und Schwachköpfen.

In diesem Moment kam Plattnase aus der Kirche und sah uns.

»Hey!«, rief er. »Wir haben noch eine Rechnung offen, Freunde! Erinnert ihr euch?«

Ich packte Colin am Arm und zog ihn auf den Friedhof, wo wir uns zwischen den Hecken verstecken konnten. Colin war intelligent, aber manchmal etwas langsam von Begriff.

»Wartetet gefälligst, ihr Feiglinge!«

»Wir sind doch nicht doof«, antwortete ich ihm so leise, dass nur Colin es hörte.

Wenn Plattnase uns folgte, so sahen oder hörten wir es jetzt nicht mehr. Ich zog Colin bis zu dem Loch, in das Frau Messerschmidt gebettet werden sollte.

»Eigentlich hat er recht«, meinte Colin. »Wir sind wirklich feige.«

»Willst du unbedingt ins Krankenhaus?«, fragte ich bissig. »Dahin kommt man nämlich, wenn man sich mit Plattnase anlegt.«

»Weiß ich doch.« Colin sah sich demonstrativ um. »Eigentlich ist das unsere Chance.«

Ich nickte. »Aber ich hab meinen Eltern versprochen, dass ich dableibe.«

»Scheiß auf deine Eltern. Bei meinen bekommst du einen Kaffee.«

»Aber nichts zu beißen. Nee, lass mal, ich riskier jedenfalls keinen Stubenarrest wie ein kleiner Hosenscheißer.«

Colin zuckte mit den Schultern und setzte sich in einiger Entfernung zum Loch ins Gras. »Okay. Warten wir also hier«, sagte er und klopfte auf den Boden neben sich. »Nun komm schon, Hosenscheißer.«

»Selber«, erwiderte ich lahm.

***

Während der Sarg sich langsam in seine ewige Dunkelheit senkte, weinten dann doch ein paar Leute. Ein kleines Mädchen in einem hübschen schwarzen Kleid verteilte mit Unschuldsmiene Taschentücher und ich sagte zu Colin, dass man sie ausnutze. Er nickte dazu. Wir fanden beide, dass das eine ziemlich miese Nummer war – und kamen uns dabei erwachsen und klug vor.

Pfarrer Dorsch geriet ins Schwitzen, als der alte Messerschmidt ans Grab trat und eine Rose hinunterwarf, denn es sah eine Sekunde lang aus, als wolle der Alte sich seiner Frau gleich hinterher stürzen. Meine Mutter war aber sofort bei ihm und führte ihn zu dem Klappstuhl, den Colins Mutter aufgestellt hatte. Irgendwie schienen unsere Mütter beide ein kleines Geldproblem zu haben.

»Lass uns abhauen. Ich hab Hunger«, sagte Colin irgendwann. »Außerdem will ich weg sein, ehe Plattnase den Klauen seiner Oma entkommt.«

Er deutete und ich sah Plattnase, der im Klammergriff einer grauhaarigen alten Dame stand und sich vergebens bemühte, ihre Hand von seinem Hintern fernzuhalten. Wir lachten ihn still aus und machten, dass wir wegkamen.

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